12.06.2022
Verlockender Reis
Wie das Huhn zum Menschen kam und seinen Weg nach Europa fand
Neue Forschungsergebnisse verändern unser Verständnis der Umstände und des Zeitpunkts der Domestikation von Hühnern, ihrer Ausbreitung über Asien in den Westen und zeigen, wie sich ihre Rolle in den Gesellschaften während der letzten 3.500 Jahre verändert hat. Experten fanden heraus, dass der voranschreitende Reisanbau wahrscheinlich einen Prozess in Gang setzte, der dazu führte, dass Hühner zu einem der zahlreichsten Tiere der Welt wurden. Weitere Untersuchungen haben gezeigt, dass Hühner zunächst als Exoten galten und erst einige Jahrhunderte später zum "Nahrungsmittel" avancierten.
In früheren Arbeiten wurde angenommen, dass Hühner vor bis zu 10.000
Jahren in China oder Südostasien domestiziert wurden und dass Hühner in
Europa schon vor über 7.000 Jahren vorkamen. Zwei neue Studien zeigen nun,
dass diese Annahme falsch ist. Die treibende Kraft hinter der
Domestikation von Hühnern dürfte die Einführung des Trockenreisanbaus in
Südostasien gewesen sein, wo ihr wilder Vorfahre, das rote Dschungelhuhn,
lebte. Der Trockenreisanbau wirkte wie ein Magnet, der die wilden
Dschungelhühner aus den Wäldern in menschliche Siedlungen lockte -
offenbar der Katalysator für eine engere Beziehung zwischen Mensch und
Dschungelhuhn, aus der schließlich das Haushuhn hervorging.
Der Domestizierungsprozess wird um 1.500 v. Chr. auf der südostasiatischen
Halbinsel nachweisbar. Die Forschungen deuten darauf hin, dass die Hühner
zunächst durch Asien und erst im frühen ersten Jahrtausend vor Chr. über
die von den frühen griechischen, etruskischen und phönizischen Seehändlern
genutzten Routen in den Mittelmeerraum transportiert wurden.
In Europa haben die Menschen Hühner zunächst verehrt und im Allgemeinen
nicht als Nahrungsmittel betrachtet. Die Untersuchungen haben gezeigt,
dass einige der frühesten Hühner einzeln und als vollständige Körper
bestattet und somit gar nicht geschlachtet wurden. Viele der Hühner wurden
auch zusammen mit Menschen bestattet, je nach Geschlecht der bestatteten
Person entweder Hähne oder Hennen. Erst später während der Römerzeit
wurden Hühner und Eier auch als Nahrungsmittel populär. In Britannien zum
Beispiel verzehrten die Menschen Hühner erst ab dem dritten Jahrhundert
nach Christus regelmäßig, vor allem in städtischen und militärischen
Siedlungsplätze.
Das internationale Expertenteam wertete Überreste von Hühnern aus, die an
mehr als 600 Fundorten in 89 Ländern gefunden wurden. Die Forscher:innen
untersuchten die Skelette, Fundumstände und historische Aufzeichnungen
über die Gesellschaften und Kulturen, in de-nen die Knochen gefunden
wurden. Die ältesten erhaltenen Knochen des Haushuhns wurden im
neolithischen Ban Non Wat in Zentralthailand gefunden und stammen aus der
Zeit zwischen 1.650 und 1.250 vor Christus.
Mittels Radiokohlenstoffdatierung gelang es dem Forscherteam das Alter von
23 Knochenfunden der frühesten Hühner aus Europa und Nordwestafrika direkt
zu bestimmen. Die meisten der Knochen waren viel jünger als bisher
angenommen. Die Ergebnisse widerlegen die Behauptung, dass Hühner in
Europa bereits 6.000 v. Chr. lebten, und deuten darauf hin, dass sie erst
um 800 v. Chr. nach Europa kamen. Nach der Ankunft im Mittelmeerraum
dauerte es dann beinahe weitere 1.000 Jahre, bis sich Hühner in den
kälteren Klimazonen Schottlands, Irlands, Skandinaviens und Islands etablierten.
Die beiden Studien erschienen in den Zeitschriften The Proceedings of the
National Academy of Sciences USA und Antiquity. Wissenschaftler:innen der
Universitäten München, Exeter, Cardiff, Oxford, Bournemouth und Toulouse
sowie von Forschungsinstituten in Deutschland, Frankreich und Argentinien
durchgeführt, darunter auch die Staatssammlung für Paläoanatomie München
(SNSB-SPM), waren an den Untersuchungen beteiligt.
Prof. Joris Peters von der Staatssammlung für Paläoanatomie München sowie
der LMU München sagt: "Zusammen mit der insgesamt sehr anpassungsfähigen,
im Wesentlichen auf Getreide basierenden Ernährung der Hühner spielten die
Seewege eine besonders wichtige Rolle bei der Verbreitung der Hühner nach
Asien, Ozeanien, Afrika und Europa."
Prof. Naomi Sykes von der Universität Exeter sagt: "Der Verzehr von
Hühnern ist so weit verbreitet, dass die Menschen glauben, wir hätten sie
nie nicht gegessen. Unsere Erkenntnisse zeigen, dass unsere Beziehung zu
Hühnern in der Vergangenheit viel komplexer war und dass Hühner
jahrhundertelang gefeiert und verehrt wurden".
Prof. Greger Larson von der Universität Oxford sagt: "Diese umfassende
Neubewertung der Hühner zeigt erstens, wie falsch unser Verständnis von
Zeit und Ort der Hühnerdomestikation war. Und, was noch viel spannender
ist, wir zeigen, wie die Einführung des Trockenreisanbaus als Katalysator
für die Domestikation der Hühner und ihre weltweite Ausbreitung wirkte.”
Dr. Julia Best von der Universität Cardiff sagt: "Dies ist das erste Mal,
dass Radiokohlen-stoffdatierungen in diesem Ausmaß verwendet wurden, um
die Bedeutung von Hühnern in frühen Gesellschaften zu bestimmen. Unsere
Ergebnisse zeigen, dass es notwendig ist, frühe Funde direkt zu datieren,
da dies uns das bisher klarste Bild unserer frühen Interaktionen mit
Hühnern liefert."
Dr. Ophélie Lebrasseur vom CNRS/Université Toulouse Paul Sabatier und dem
Instituto Na-cional de Antropología y Pensamiento Latinoamericano, sagt:
"Die Tatsache, dass Hühner heute so allgegenwärtig und beliebt sind,
obwohl sie erst vor relativ kurzer Zeit domestiziert wurden, ist
verblüffend. Unsere Forschung unterstreicht die Bedeutung solider
osteologischer Vergleiche, sicherer stratigrafischer Datierungen und der
Einordnung früher Funde in einen breiteren kulturellen und ökologischen
Kontext".
Prof. Mark Maltby von der Universität Bournemouth sagt: "Diese Studien
zeigen den Wert von Museen und die Bedeutung von archäologischem Material
für die Erforschung unserer Vergangenheit."
Originalpublikation:
Peters J et al. (2022) The biocultural origins and dispersal of domestic chickens. Proceedings of the National Academy of Sciences USA
https://www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.2121978119
Best J et al. (2022) Redefining the timing and circumstances of the chicken’s introduction to Europe and north-west Africa. Antiquity 2022 Vol.0(0): 1–15
https://doi.org/10.15184/aqy.2021.90
Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
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