30.03.2022
Wenn Russland nicht mehr liefert, sind auch Einsparungen gute Energiequellen
Was ist, wenn Russland kein Gas, kein Erdöl und keine Kohle mehr nach Deutschland liefert? Prof. Dr. Görge Deerbergs klare Botschaft ist: „Bewusster mit Energie umgehen, keine Energie verschwenden, sondern einsparen, und gleichzeitig mit Vollgas in die neuen und regenerativen Energien rein! Lange Diskussionen können wir uns nicht mehr leisten.“
Einsparen ist für den Professor für Umweltwissenschaften an der
FernUniversität grundsätzlich eine gute Idee, auch hinsichtlich der
Klimaproblematik. „Man muss ja nicht deswegen bibbernd in der Wohnung
sitzen.“ Wichtig ist, sich des Energieverbrauchs bewusst zu werden und ihn
individuell einzuschränken. Wasserstoff ist für ihn noch keine Alternative.
Der Ukraine muss im Krieg geholfen werden. Das ist weitgehend Konsens in
Deutschland. Doch was ist, wenn Russland kein Gas, kein Erdöl und keine
Kohle mehr nach Deutschland liefern will oder darf? Die Verunsicherung ist
groß, Prognosen reichen von „Das ist zu schaffen“ bis zu „Millionen von
Arbeitslosen“. Denn es geht nicht nur um Heizen und um Mobilität. Öl, Gas
und Kohle sind auch Rohstoffe in der industriellen Produktion.
Prof. Dr. Görge Deerberg hat dazu eine klare Botschaft: „Bewusster mit
Energie umgehen, egal in welcher Form, keine Energie verschwenden, sondern
einsparen, und gleichzeitig mit Vollgas in die neuen und regenerativen
Energien rein! Lange Diskussionen hierzu können wir uns nicht mehr
leisten.“ Er ist an der FernUniversität in Hagen Professor für
Umweltwissenschaften. Sein Arbeitsbereich leitet im wissenschaftlichen
Rahmen das interdisziplinäre Fernstudium Umweltwissenschaften („infernum“)
und den Weiterbildungsstudiengang DYNERGY. Das sind wissenschaftliche
Weiterbildungsangebote der FernUniversität und des Fraunhofer-Instituts
für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT in Oberhausen, dessen
stellvertretender Leiter der promovierte Chemie-Ingenieur ist.
Russische Energielieferungen
„In den letzten Jahren, auch in 2021, haben wir immer circa 3.400
Terrawattstunden an Primärenergie in Deutschland verbraucht. Davon stammen
alleine etwa 1.000 Terrawattstunden aus Russland“, beschreibt er die
dramatische Abhängigkeit Deutschlands, das aus Russland im Wesentlichen
Gas, Öl und Kohle importiert. So kommen 35 Prozent des Öls, das in
Deutschland weit überwiegend für die Mobilität, aber auch für die
chemische Industrie verbraucht wird, von dort. Und 55 Prozent des
Erdgases. Eingesetzt wird es vor allem zum Heizen, insbesondere im
privaten Bereich, aber auch in der chemischen Industrie, etwa für die
Produktion der Grundstoffe Ammoniak für Dünger und das vielfach verwendete
Methanol und andere Chemikalien. Außerdem gibt es mit Erdgas noch eine
nennenswerte Wasserstoffproduktion, insbesondere für die Erdölverarbeitung.“
Was passiert, wenn die Lieferungen ausfallen?
Deutsche Braunkohlekraftwerke könnten bei einem Importausfall hochgefahren
und theoretisch Atommeiler länger betrieben werden, um fehlende Steinkohle
zu ersetzen. Deerberg: „Wir müssten wohl auch Strom importieren. Das
könnte vom französischen Atom- über polnischen Braunkohle- bis hin zu
"auberem" Strom reichen, der in Österreich oder Skandinavien durch
Wasserkraft gewonnen wird.“
Nationale Erneuerbare Energien würden kaum ausreichen, um große Ausfälle
unmittelbar auszugleichen, weil z.B. nicht schnell genug entsprechend
viele Windräder errichtet werden könnten. Gewisse Verstromungsreserven
könnten kurzfristig bei Biogas-Anlagen zu finden sein, die häufig eine
Auslastungsreserve von ein paar Prozent haben.
Kritisch wird es beim Erdöl. Man sieht es an den Tankstellen-
Preisschildern, auch wenn hier zurzeit Spekulationen eine Rolle spielen
könnten, vermutet Deerberg. Früher oder später dürften bei einem
Lieferstopp reale Engpässe eintreten: „Dann wird es im Mobilitätssektor
schwierig.“ Die Riesenzahl von Verbrenner-Fahrzeugen ist in kurzer Zeit
nicht umzurüsten oder zu ersetzen. Und wo sollte der Strom für viele
E-Fahrzeuge herkommen?
Größte Probleme beim Erdgas
„Wirklich schwierig wird es, Erdgas zu ersetzen. Wesentliche Teile der
Industrie können ohne das Gas nicht produzieren.“ Auch Raffinerien würden
Probleme bekommen, die Düngerproduktion auf Ammoniakbasis würde stocken.
Man müsste entscheiden: Wollen wir das Erdgas fürs private Heizen
reduzieren oder für den industriellen Bereich?
„Nun versorgen wir uns ‚nur‘ rund zur Hälfte aus Russland mit Energie“
(Deerberg betont die Anführungszeichen). „Andererseits sind wir Mitglied
in europäischen Verbundnetzen. Doch viele andere Staaten sind ähnlich
aufgestellt. Untereinander jetzt einen Ausgleich hinzubekommen, wird
schwierig“, fürchtet der Wissenschaftler.
National bestünde die Möglichkeit, hier und da noch einmal zu „fracken“,
um Erdgas zu gewinnen. Aber wegen der hohen Umweltrisiken will das kaum
jemand, und es dauert ja auch wieder seine Zeit, bis man so weit ist.
Wie ist es mit Wasserstoff?
„Erdgas kann man in bestimmtem Umfang im Verbundnetz durch Wasserstoff
ersetzen. Man muss aber immer bedenken, dass er deutlich weniger Energie
enthält als Erdgas.“ Zwar kann die Infrastruktur eine gewisse Energiemenge
auf Wasserstoffbasis transportieren, doch reichen weder die Infrastruktur
noch die zur Verfügung stehende Wasserstoffmenge aus.
Dem Gesamtenergie-Primärverbrauch von 3.400 Terrawattstunden pro Jahr in
Deutschland steht eine Gesamterzeugung von etwa 540 Terrawattstunden
erneuerbarer Energie gegenüber. Deerberg: „Da sehen wir schon deutlich,
wie groß die Lücke ist, die wir schließen müssen. Wenn wir alles mit
Wasserstoff erledigen wollten, würde das lange dauern. Und wir haben gar
nicht die Ausbaureserven, um alles hier im Land zu machen. Wir werden also
auch da lange auf Importe angewiesen sein.“
Zudem können die Endverbraucher nicht einfach auf Wasserstoff umsteigen:
Gasthermen sind technisch nicht auf den Betrieb damit ausgerichtet. Sie
müssten umgerüstet oder ausgetauscht werden. Dann könnte es technisch
funktionieren. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Die Umstellung
von L-Erdgas auf H-Erdgas hat in Deutschland Jahre gedauert und ist immer
noch nicht beendet.
„Für die Umstellung von einer Erdgassorte auf die andere haben wir schon
etliche Jahre gebraucht und die Umstellung auf Wasserstoff wird ja
komplizierter sein. Im Moment sagen wir: Fünf Prozent, vielleicht einmal
zehn Prozent an Wasserstoff können wir ins Erdgasnetz einspeisen“,
erläutert Deerberg. „Ein paar Projekte untersuchen zurzeit, ob
Infrastruktur und Endgeräte auch mehr vertragen können.“
Wasserstoffproduktion mit Erdgas und Strom
Es gibt noch keinen Weltmarkt, auf dem man einfach Wasserstoff in großen
Mengen einkaufen könnte. Hergestellt wird er einerseits aus Erdgas, etwa
im großen Stil für Ammoniak und chemische Industrie. Durch Elektrolyse,
also mit Strom, wird dagegen relativ wenig produziert. Die Anlagen dafür
werden gerade erst geplant. Es gibt einige Demonstrationsprojekte, die in
den Gigawatt-Bereich vorstoßen, die aber an die Infrastruktur mit den
Pipelines noch nicht angebunden sind. Es dauert also noch, bis die
Elektrolyseure, die Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff aufteilen,
wirklich im großen Maßstab laufen. Sinn macht das allerdings erst, wenn
erneuerbarer Strom in der dann erforderlichen großen Menge zur Verfügung steht.
Wasserstoff importieren?
In den vergangenen Jahren zielte das Thema „Import von grünem Wasserstoff“
auch auf Russland ab, weil man diesen dort aufgrund des Windpotentials gut
herstellen kann und weil mit blauem Wasserstoff aus Erdgas auch ein
schneller Hochlauf möglich wäre. „Davon wird man jetzt wohl abrücken und
mehr nach Nordafrika oder sogar Australien schauen müssen. Es gibt ja
bereits Projekte, die sich mit dem Wasserstoffimport aus Australien oder
aus vielleicht auch problematischen Partnerländern in Südamerika oder
China beschäftigen.“ In Südeuropa gibt es ebenfalls Länder, die
erneuerbaren Strom und Wasser haben. Doch Deerberg schätzt, dass es
mindestens zehn bis 15 Jahre dauert, bis die Infrastruktur aufgebaut ist,
zumal eine „gewisse Diversifizierung“ notwendig wäre.
In der aktuellen Situation müsste man ggf. daher in Kauf nehmen, dass für
die Elektrolyse Strom aus nicht erneuerbaren Quellen eingesetzt werden
muss, also auch Netzstrom mit größerem CO2-Fußabdruck.
Gibt es einen Zusammenhang mit der Energiewende?
Wenn Ende 2022 die Atomkraftwerke abgeschaltet und dann die
Braunkohlekraftwerke zurückgefahren werden, muss der prozentuale Anteil
von Strom aus erneuerbaren Quellen ansteigen. Der Ausbau muss nun sehr
viel schneller erfolgen als in den letzten Jahren. Windräder und
Solarzellen erzeugen Strom aber häufig dann, wenn er nicht gebraucht wird.
Zu anderen Zeiten wiederum ist die Nachfrage größer als die Erzeugung.
Speichern kann man Strom nicht so gut, dafür braucht man dann den
Wasserstoff. Deerberg: „Mit dem Umbau im Strombereich müssen wir auch
einiges an Wasserstoffinfrastruktur bei uns etablieren.“
Worauf sollte Deutschland sich also vorbereiten?
„Neben dem Umbau aufs Einsparen“, sagt Deerberg. „Das wäre grundsätzlich
eine gute Idee, nicht zuletzt auch hinsichtlich der Klimaproblematik:
weniger verbrauchen, wie auch immer. Man muss ja nicht deswegen bibbernd
in der Wohnung sitzen. Schon ein bis zwei Grad weniger in der Wohnung
senken den Verbrauch merklich. Wenn man die Heizung etwas nach unten
reguliert, ist man also schon wieder ein Stück des Problems los. Man fährt
weniger Auto. Und weniger schnell. Das sind Maßnahmen, mit denen fast
jeder einen Beitrag leisten kann. Das löst nicht das ganze
Versorgungsproblem in der der aktuellen Energiekrise, es geht ja auch ums Klima.“
Wichtig ist, sich des Energieverbrauchs bewusst zu werden und ihn
individuell einzuschränken. „Das hat nichts mit großem Komfortverlust zu
tun, aber jeder kann ja mal überlegen, wo man überall Energie
verschwendet. Es geht nicht um Einschränkung, sondern darum, Verschwendung
zu vermeiden. Einsparungen sind die besten Energiequellen. Gleichzeitig
müssen wir unsere Potentiale weiter ausschöpfen. Vielleicht muss man auch
eine Zeitlang über seinen Schatten springen und die Kohlekraftwerke weiter
am Netz halten. Wenn die Wirtschaft den Gashahn zugedreht bekommt, wird es
mit den gesamtwirtschaftlichen Effekten wie Arbeitslosigkeit schwierig.
Dann verlieren wir wirklich an Wohlstand. Ein paar Grad weniger im
Schlafzimmer erscheinen da nicht so schlimm.“
FernUniversität in Hagen
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