13.03.2020
Flugreisen u. SUV-Käufe sind trotz der Auswirkungen auf den Klimawandel auf Höchststand
Kassenbon-Pflicht, Nutri-Score, teurere Flugtickets: 2020 bringt für Konsumenten viele Veränderungen mit sich. Kontroverse Diskussionen gab es
bereits im Vorfeld. Zuletzt hat der Skandal um mit Listerien verunreinigte Wurst den Verbraucherschutz als Top-Thema in die Medien und die Politik katapultiert. Zum Weltverbrauchertag am 15. März beantwortet Prof. Dr. Kirsten Schlegel-Matthies, Expertin für Verbraucherforschung und -bildung an der Universität Paderborn, Fragen zu aktuellen Entwicklungen, Risiken und Herausforderungen durch das Internet.
Interview mit Prof. Dr. Kirsten Schlegel-Matthies zum Weltverbrauchertag
Frau Schlegel-Matthies, welche Themen beschäftigen Verbraucher aktuell
besonders?
Schlegel-Matthies: Derzeit verunsichert vor allem das Coronavirus die
Verbraucher. Für viele ist unklar, wie sich das Virus z. B. auf geplante
Urlaubsreisen auswirkt und welche Rechte Reisende haben. „Sind meine
Stornierungen kostenlos möglich? Wann kann ich von der Reise zurücktreten?
Bekomme ich mein Geld zurück, wenn mein Flug gestrichen wird?“ Diese und
ähnliche Fragen stellen sich Verbraucher aktuell besonders häufig.
Abgesehen davon spielt im Verbraucheralltag das Internet eine große Rolle:
Cyberkriminalität, Abzocke mit Dating-Portalen im Netz, fehlende oder
mangelhafte Beratung bei Telefon- und Internethotlines sind nur einige
Problemfelder. Online warten mitunter viele Kostenfallen und
Sicherheitslücken auf die Verbraucher.
Was sind aktuelle Verbraucherthemen in der Politik?
Schlegel-Matthies: In der Politik geht es allgemein um Phänomene, die mit
der zunehmenden Digitalisierung zu tun haben wie personalisierte Werbung,
künstliche Intelligenz (KI) und automatisierte Entscheidungstechnologien
(ADM). Ein konkretes gegenwärtiges Thema ist das sogenannte „Scoring“, bei
dem z. B. der Staat das Verhalten von Menschen durch Überwachung bewertet,
um es zu honorieren oder zu bestrafen, wie es in China der Fall ist. Hier
stellt sich grundlegend die Frage nach dem Schutz der
Persönlichkeitsrechte.
Auf EU-Ebene sind neue Strategien für die Verbraucher geplant. So soll die
Umsetzung des Europäischen Green Deals beginnen, um bis 2050 klimaneutral
zu werden. Auch die Einführung von einheitlichen EU-weiten Ladegeräten für
Handys und Tablets wird von der EU-Kommission vorbereitet.
Welche Veränderungen kommen 2020 auf die Verbraucher zu?
Schlegel-Matthies: Seit Jahresbeginn gilt z. B. bundesweit für alle
Einkäufe eine Kassenbon-Pflicht. Wichtig für Verbraucher ist aber: Der Bon
muss nicht mitgenommen werden. Außerdem hat die Bundesregierung Maßnahmen
zum Klimaschutz ergriffen: Verbraucher können in diesem Jahr mit einem
Aufschlag bei Flugtickets rechnen, gleichzeitig aber auch mit billigeren
Bahntickets, durch Senkung der Mehrwertsteuer. Auch die EEG-Umlage, mit
der der Ausbau von erneuerbaren Energien finanziert wird, steigt. Eine
weitere Neuerung ist der freiwillige Nutri-Score bei Lebensmitteln. Dieser
soll Verbrauchern mit einem Ampelsystem auf der Verpackung über die Menge
an Nährwerten des jeweiligen Produkts informieren. Darüber hinaus startet
der Einbau intelligenter Stromzähler, es wird strengere Grenzwerte für 33
krebserregende Substanzen bei Textilien geben und ab Mai ist der Verkauf
mentholhaltiger Zigaretten verboten. All das sind nur einige Änderungen,
die in diesem Jahr auf die Verbraucher zu-kommen.
Tausende Menschen gehen derzeit für den Klimaschutz auf die Straße. In
Supermärkten finden sich immer mehr vegane Produkte: Sind wir heute
kritischere Konsumenten?
Schlegel-Matthies: Man könnte das glauben, zumal in Befragungen deutlich
wird, dass die Verbraucher um die Probleme wissen. Das alltägliche Handeln
passt aber nicht zum Wissen. Flugreisen und SUV-Käufe sind trotz der
Auswirkungen auf den Klimawandel auf einem Höchststand. Auch Fleisch wird
nicht weniger gegessen. Allerdings sind insgesamt die Gruppen, die
tatsächlich etwas bewirken wollen, größer geworden. Sie machen aber eben
nicht den Mainstream aus.
Heute macht die Digitalisierung das Konsumieren einfach: online shoppen,
Filme streamen, im Internet Kredite aufnehmen – Gibt es dadurch andere
oder verstärkte Gefahren?
Schlegel-Matthies: Tatsächlich gibt es für Verbraucher unzählige Beispiele
für Risiken und Gefahren, mit denen sie durch das Internet konfrontiert
werden. Bei personalisierter Werbung, individualisierten Preisen und
Fakestores besteht die Gefahr, im Online-Handel leicht getäuscht und
abgezockt zu werden. Probleme können aber auch durch den internationalen
Handel entstehen, insbesondere bei unterschiedlichen rechtlichen
Regelungen außerhalb der EU.
Ein weiteres großes Thema ist der Datenschutz im Internet, z. B. im „Smart
Home“. Hier stellen sich u. a. Fragen nach dem Speicherort der Daten und
nach den Zugriffsrechten. Durch die Vernetzung von Informations- mit
Unterhal-tungselektronik oder Haushaltsgeräten steigt die Gefahr von
Angriffen durch Cyber-Kriminelle.
Auch soziale Netzwerke stehen im Fokus: Hass- und Mobbingaktivitäten sind
dort leider keine Seltenheit. Zwar sind die sozialen Netzwerke
verpflichtet, auf Beschwerden ihrer Nutzer hin strafbare Inhalte zu
sperren oder zu löschen, doch die Anonymität im Netz machen Hetze und
strafbare Äußerungen auf diesen Plattformen einfach.
Hat sich demnach auch der Verbraucherschutz in Zeiten der Digitalisierung
verändert?
Schlegel-Matthies: Ja. Es sind z. B. zunehmend internationale,
grenzüberschreitende Regelungen notwendig, da durch die Digitalisierung
heute aus allen Teilen der Welt Konsumgüter bezogen werden. Das hat u. a.
Auswirkungen auf Regelungen zur Produkt- und Qualitätssicherheit, aber
auch hinsichtlich sicherer Zahlungsmöglichkeiten, z. B. bei Onlineshops.
In diesem Zusammenhang gewinnt auch der Datenschutz zunehmend an
Bedeutung.
Grundsätzlich sollte ein ordnungspolitischer Rahmen für die Auswirkungen
der Digitalisierung geschaffen werden – der auch durch technische
Möglichkeiten flankiert werden muss. Denkbar wäre es, rechtliche
Regelungen zu beschließen und z. B. eine „Ethik“ in Algorithmen
einzubauen, die diese Regelungen dann auch berücksichtigt.
Sollten Verbraucher also verstärkt geschützt werden, beispielsweise durch
gesetzliche Regelungen, oder sollten sie eher eigenverantwortlich handeln?
Schlegel-Matthies: Verbraucher können angesichts der wachsenden
Komplexität nicht immer und überall eigenverantwortlich handeln. In vielen
Bereichen sind ordnungspolitische Maßnahmen zwingend erforderlich. Man
denke nur an den Skandal um Pferdefleisch in der Lasagne – so etwas können
Verbraucher gar nicht erkennen. Hier ist der Staat mit entsprechenden
Lebensmittelkontrollen gefragt. Das gilt in vielen anderen Fällen
ebenfalls. Verbraucher können ihre Entscheidungen nicht immer
selbstbestimmt und bestinformiert treffen. Jede Person ist in irgendeinem
Bereich einmal ein „verletzlicher Verbraucher“, d. h., dass er oder sie
beispielsweise aufgrund mangelnder Mittel oder Bildung, ein schwächerer
und oftmals benachteiligter Marktteilnehmer ist.
Meinen Sie, dass Verbraucher heutzutage ausreichend informiert sind und
ihre Rechte kennen? Oder bedarf es verstärkter Bildung?
Schlegel-Matthies: Es bedarf unbedingt und verstärkt der
Verbraucherbildung. An der Universität Paderborn bilden wir am Institut
für Ernährung, Konsum und Gesundheit Lehrpersonen für die
Verbraucherbildung aus. Leider ist Verbraucherbildung nicht in allen
Schulformen verpflichtend angesiedelt. Für eine selbstbestimmte
Lebensführung in der digitalisierten Welt ist diese allerdings dringend
erforderlich. Nicht nur, um eigenverantwortlich handeln zu können, sondern
auch, um zu wissen, an wen man sich bei Problemen wenden kann. Das fängt
bei banalen Fragen wie der Reklamation von Konsumgütern an und endet noch
lange nicht bei fehlenden Hinweisen auf Widerrufsfristen bei
Onlineportalen. Auch das Wissen über nachhaltig erzeugte Produkte sollte
gefördert werden, ebenso wie das Verständnis davon, welche Folgen die
Lebensweise unserer Gesellschaft für die Umwelt, den Ressourcenverbrauch
und die Mitmenschen hat – hier und in anderen Teilen der Welt.
Weitere Informationen finden Sie unter:
http://www.upb.de
Universität Paderborn
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