07.02.2019
Unstatistik des Monats: „Todesfalle Landwirtschaft“
Die "Unstatistik des Monats" ist das Konzept der „Anzahl vorzeitiger Todesfälle“. Es suggeriert beispielsweise, dass Schweine gefährlicher sind
als Diesel-Autos und den größten Teil der jährlich knapp 120.000 vorzeitigen Todesfälle durch Feinstaub verursachen – doppelt so viele wie
bisher angenommen.
Schweine sind gefährlicher als Diesel-Autos: Rund 50.000 Menschen sterben
vorzeitig Jahr für Jahr in Deutschland an den Emissionen der
Landwirtschaft (insbesondere der Massentierhaltung) errechnet das Mainzer
Max-Planck-Institut für Chemie. Das seien 45 Prozent und damit der größte
Teil der jährlich knapp 120.000 vorzeitigen Todesfälle durch Feinstaub –
doppelt so viele wie bisher angenommen. Für die Tagesschau ist damit klar,
dass Feinstaub ebenso gefährlich ist wie Rauchen.
Doch das Konzept der „Anzahl vorzeitiger Todesfälle“ ist ein
Musterbeispiel einer Unstatistik. Zunächst stirbt in Deutschland kein
einziger Mensch an Feinstaub, sondern an Erkrankungen, die durch Feinstaub
(mit) verursacht sein können, es aber nicht sein müssen. Das Max-Planck-
Institut untersucht auch gar nicht, ob Feinstaub die Gesundheit von
Menschen beeinflusst, sondern setzt voraus, dass dies der Fall ist und
darüber hinaus sogar quantifiziert werden kann. Dabei handelt es sich aber
nicht um gemessene Fakten, sondern um Modellergebnisse, die auf Annahmen
beruhen und eine hohe Unsicherheit von mindestens ± 50 Prozent
aufweisen.
Warum ist das so?
Der Grund ist, dass man nicht weiß, wie viele Menschen vorzeitig
verstorben sind, sondern nur, um wieviel kürzer sie im Schnitt gelebt
haben. Man kann lediglich versuchen, die Anzahl der vorzeitig Verstorbenen
herzuleiten. Hierzu sucht man eine Formel, die ein plausibles Ergebnis für
den beobachteten Unterschied der Lebensdauer liefert.
Es bleibt unklar, wie Unterschiede in der Lebensdauer zustande kommen
Diese Formel ist die „Attributable Fraktion“. Sie wird oft verwendet,
sieht kompliziert aus und mag in manchen Situationen auch zu den Daten
passen. Nur – niemand weiß, ob sie tatsächlich stimmt. Die Datenbasis
solcher epidemiologischen Studien sind zusammenfassende Statistiken über
Gruppen von Menschen, die zeigen, dass (manche, nicht alle) Gruppen mit
hoher Feinstaub-Exposition im Durchschnitt kürzer gelebt haben als
(manche, nicht alle) Gruppen mit niedriger Exposition. Selbst wenn diese
Gruppen in allen anderen Merkmalen identisch wären, so wie Zwillinge, gibt
es immer noch verschiedene Möglichkeiten, wie der Unterschied zustande
kommen kann.
Stirbt jeder Mensch in der belasteten Gruppe um ein Jahr früher, so lebt
die belastete Gruppe auch im Durchschnitt ein Jahr kürzer. Nehmen wir
beispielsweise drei Zwillingspärchen: Zwillingspaar eins stirbt mit 79
bzw. 78 Jahren, Paar zwei mit 80 bzw. 79 Jahren und Paar drei mit 81 bzw.
80 Jahren. Drei Personen leben kürzer und im Durchschnitt lebt die
belastete Gruppe ein Jahr kürzer. Nehmen wir nun alternativ an, dass die
belasteten und unbelasteten Zwillinge der Paare eins und zwei exakt
gleichlang leben. Nur Paar drei unterscheidet sich: Einer stirbt mit 81
Jahren, der andere mit 78. Dann gibt es nicht drei vorzeitige Todesfälle,
sondern nur einen, aber im Durchschnitt lebt die belastete Gruppe
ebenfalls ein Jahr kürzer. Bei Tausenden oder gar Millionen von Menschen
steigt die Zahl möglicher Kombinationen massiv an.
Deshalb ist zwar eine Aussage über die durchschnittliche Zahl verlorener
Lebensjahre pro Person vernünftig, aber eine Aussage über die Zahl
vorzeitiger Todesfälle durch Feinstaub ist es nicht. Denn letztere kann
viel kleiner sein oder auch viel größer, als uns diese Unstatistik glauben
macht. Wer wie die Tagesschau suggeriert, das Max-Planck-Institut hätte
nun durch präzise Berechnungen widerlegt, was man zuvor nur angenommen
hat, der handelt mindestens grob fahrlässig.
Zum Weiterlesen:
- Morfeld P., Erren T. (2019): Warum ist die „Anzahl vorzeitiger
Todesfälle durch Umweltexpositionen“ nicht angemessen quantifizierbar?
Erscheint demnächst in: „Das Gesundheitswesen“
- Die Studie des MPI Chemie gibt an, die Methodik nach Lim et al. zu
verwenden; dies ist die Attributable Fraction, siehe:
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4156511/
Weitere Informationen finden Sie unter:
http://www.unstatistik.de (Alle „Unstatistiken“ im Internet)
RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung
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