08.01.2019
Seit 200 Jahren bekannt und noch voller Rätsel:
Die blutrote Schneealge ist Alge des Jahres 2019
Die Alge Chlamydomonas nivalis, die auf der ganzen Welt Schnee blutrot zu färben vermag, haben Forschende zur Alge des Jahres gewählt. Auch 200 Jahre nach einer Expedition, bei der Kapitän John Ross auf einer Polarfahrt den Roten Schnee zeichnete und den Verursacher im Mikroskop zu erkennen suchte, gibt die Alge weiterhin Rätsel auf.
Schneealgenexperte Dr. Thomas Leya vom Potsdamer Fraunhofer IZI-BB erklärt, warum das so ist
und wo der winzige Einzeller zu entdecken ist. Leya ist Mitglied der
Sektion Phykologie, in der die Algenforscher der Deutschen Botanischen
Gesellschaft (DBG) organisiert sind, die Chlamydomonas nivalis zur Alge des Jahres 2019 gewählt haben.
Als im Jahr 1818 britische Seeleute auf der Suche nach einer Nord-West-
Passage die Küsten der Baffins Bay auf Grönland entlangsegelten, staunten
sie über Schneefelder in „dunkler Karmesinfarbe“. Wie Kapitän John Ross
beschreibt, war der Schnee „den Fels herunter, an einigen Stellen bis zu
einer Tiefe von 10 bis 12 Fuß von dem färbenden Stoff durchdrungen“. Die
Schiffsoffiziere betrachteten Proben unter dem Mikroskop und fanden darin
dunkelrote, samenkornartige Gebilde, „ein vegetabilisches Produkt“ wie sie
vermuteten. Den Kapitän faszinierte das Blutschnee-Phänomen so sehr, dass
er es im Logbuch niederschrieb. Seine Beobachtungen schilderte er später
im Buch „A voyage of discovery“ zusammen mit einer Zeichnung der blutroten
Klippen, die er „Crimson Cliffs“ nannte. Eine weitere Expedition im Jahr
1851 brachte Proben-Röhrchen aus der Baffin Bay mit, von denen eine Probe
noch immer im Berliner Museum für Naturkunde aufbewahrt wird.
Wie sich die blutrote Schneealge „versteckt“
Wie man heute weiß, wird die rote Farbe im Schnee durch die Alge
Chlamydomonas nivalis hervorgerufen. Bei den mikroskopisch kleinen, roten
Gebilden handelt es sich um beinahe leblose Dauerstadien, sogenannte
Zysten. Sie sind von einer sporopollenin-ähnlichen Substanz ummantelt, die
auch Pollenkörnern ihre Widerstandskraft verleiht. „Bislang hat noch kein
Wissenschaftler diesen zu den Grünalgen zählenden Organismus im Labor
kultivieren können“, erklärt Leya, der an der Potsdamer Außenstelle
Bioanalytik und Bioprozesse des Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und
Immunologie (IZI-BB) eine der weltweit bedeutendsten Schneealgensammlungen
namens CCCryo unterhält. „Die vermehrungsfähigen Stadien der blutroten
Schneealge müssten eigentlich aufgrund des enthaltenen Photosynthese-
Farbstoffes, des Chlorophylls, grün sein.“ Neben dieser roten
Schneealgenart gibt es noch eine ganze Reihe anderer Schneealgen, die den
Schnee auch großflächig grün färben können. Dass scheinbar niemand den
Verursacher des Roten Schnees kultivieren kann, bestätigten Leya auch
Kolleginnen aus dem In- und Ausland, die vergangenen November zum 2.
internationalen Schneealgentreffen SAM2018 ans IZI-BB nach Potsdam
gekommen waren.
Zwar berichteten schon einige Forschende, dass es ihnen gelungen sei,
lebende Zellen aus Rotem Schnee zu kultivieren, doch „bei genauerer
Betrachtung stellten sich diese jedoch stets als die gleichzeitig
mitvermehrte Begleitflora heraus, eben andere Schneealgen des Grünen
Schnees“, so Leya. Weltweit rätseln deshalb Forschende, welche
Umweltbedingungen sie im Labor nachstellen müssen, damit sich die
Mikroalge Chlamydomonas nivalis als Reinkultur wohlfühlt.
Blutroter Sonnenschutz
Was die rote Farbe hervorruft, ist dagegen schon länger bekannt. Sie
stammt vom Farbstoff Astaxanthin, einem Carotinoid, das man auch in
anderen Algen, Garnelen oder Lachs findet. Letztere eignen sich den
Farbstoff allerdings durch den Verzehr von rotgefärbten Algen an. In der
Alge schützt der blutrote Farbstoff die lichtempfindliche Photosynthese-
Maschinerie vor zu intensiver Sonnenstrahlung. Vermutlich dient das
Astaxanthin auch dazu, das Erbmaterial im Zellkern vor schädigendem UV-Licht abzuschirmen.
Vermehrung im ewigen Schnee
Die blutrote Schneealge kommt fast überall auf der Welt im ewigen Schnee
vor: in der Arktis, Antarktis und im Hochgebirge. Es ist zu vermuten, dass
sie wie ihre Verwandten des Grünen Schnees, an ihren kalten Lebensraum
gebunden ist und bei höheren Temperaturen abstirbt, was aber noch keiner
belegen kann. Auch über den jährlichen Zyklus der Entwicklung der roten
Schneealgenfelder ist wenig bekannt, wenngleich dieses Phänomen doch so
verbreitet ist und regelmäßig in Sommern beobachtet wird. "Wir wissen
zwar, wie Roter Schnee aussieht, aber wir wissen nicht wirklich, wie diese
mikroskopische Alge es schafft, im Frühsommer, wenn noch mehrere Meter
Neuschnee liegen, solche Massen an Zellen hervorzubringen, die es für das
Phänomen des Roten Schnees benötigt. Dabei handelt es sich ja um eine
regelrechte Algenblüte“, erklärt Leya. Um das herauszufinden, müsste man
ein Schneefeld beispielsweise auf Spitzbergen, wo Leya viele Sommer
geforscht hat, "von Winter über Frühjahr bis zum Ende des Sommer in allen
Schichten eines 2-3 Meter dicken Schneefeldes beproben und die
verschiedenen Zellstadien untersuchen“, sagt der Potsdamer Algenforscher,
Beisitzer im Vorstand der Sektion Phykologie in der Deutschen Botanischen Gesellschaft.
Verwandtschaft noch nicht ganz aufgeklärt
Wie sich die blutrote Schneealge auf der ganzen Welt ausbreiten konnte, ob
ihre Verbreitung nur lokal ist oder sie mit Winden weltweit verdriftet
wird, ist weiterhin ihr Geheimnis. Bislang ist auch ihre
verwandtschaftliche Stellung innerhalb der Algen nicht vollständig
geklärt. Ihren wissenschaftlichen Namen, Chlamydomonas nivalis, was so
viel heißt wie im Schnee lebende Chlamydomonas-Alge, erhielt sie bereits
1903. Sie wurde aber wohl eher zufällig nach den mit ihr gemeinsam im
Schnee vorkommenden anderen Algen der Chlamydomonas-Gruppe zugordnet. Mit
der im Jahr 2014 zur Alge des Jahres gekürten Chlamydomonas reinhardtii
(siehe: Schneller Schwimmer steht Model https://dbg-phykologie.de/alge-
des-jahres/alge-des-jahres-2014/) scheint sie nicht direkt verwandt zu
sein. Darauf deuten neuere genetische Studien hin, die an Proben aus
Schneefeldern weltweit durchgeführt wurden. Gleichzeitig wurde auch die
oben genannte, alte Probe aus der Baffins Bay von 1851 untersucht. "Unsere
aktuellen Studien zeigen, dass die Art wohl weltweit in Form ihrer Zysten
verbreitet wird“, sagt Leya. "Genetisch unterscheiden sich die blutroten
Schneealgen Spitzbergens kaum von denen aus den Rocky Mountains oder den
Alpen. Auch Zellen aus der Antarktis unterscheiden sich kaum von denen
anderer Gebiete der Erde, so dass man wohl von einem weltweiten Genfluss
ausgehen kann“, berichtet der Algenforscher über die ersten Ergebnisse.
„Die Alge des Blutschnees wird auch einer anderen Algengattung als
Chlamydomonas zugeordnet werden müssen, das gilt schon jetzt als sicher."
Verwahrung in Biobanken
„Damals ein Mythos, oft lebhaft zu Seemannsgarn versponnen und auch heute
noch voller Fragen“, beschreibt Leya die Alge. Auch wenn das Phänomen des
Roten Schnees nun 200 Jahre alt ist, liegt noch vieles über die rote
Schneealge im Dunklen. Dabei ließen sich diese kälteangepassten
Schneealgen vielleicht auch industriell nutzen. Zwar ist Chlamydomonas
nivalis nicht im Labor kultivierbar, weswegen zur Untersuchung der roten
Zysten immer wieder neue Proben gesammelt werden müssen, doch Leya hält in
seiner CCCryo Biobank am IZI-BB eine Reihe anderer, grüner und
kälteangepasster Algen. Einige von ihnen werden derzeit hinsichtlich ihres
kompletten Genoms und Transkriptoms mit Kolleginnen der Universität von
Kalifornien (UCLA) und des Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam
untersucht. "Wir erhoffen uns Erkenntnisse über kälteaktive Enzyme, die
sich z.B. für medizinische und diagnostische Zwecke oder in der
Lebensmittelprozesstechnik sowie Kosmetik einsetzen lassen", sagt Leya.
„Was aber die rote Schneealge angeht: Solange wir davon keine lebenden
Reinkulturen haben, wird sich ihr Leben weiterhin im Verborgenen
abspielen“, resümiert der Schneealgenexperte.
https://dbg-phykologie.de/
Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland e.V.
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