08.07.2018
Schnecken-Shuttle-Service
Auf der Speisekarte von Nacktschnecken stehen nicht nur Moose, Flechten und Gartengemüse, sondern auch winzig kleine Hornmilben, die sie unweigerlich mit ihrer Nahrung aufnehmen. Erstaunlicherweise überstehen die meisten der kleinen Spinnentiere die Reise durch den Schneckendarm unbeschadet und werden an einem anderen Ort im Ökosystem wieder lebend ausgeschieden.
Wissenschaftler um Dr. Manfred Türke vom Deutschen Zentrum
für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Universität Leipzig
haben erstmalig bei Milben diese Ausbreitungsstrategie entdeckt, die in
der Fachwelt als Endozoochorie („Verdauungsausbreitung“) vor allem bei
Pflanzen bekannt ist. Ihre Forschungsergebnisse haben die Forscher in der
Fachzeitschrift Oecologia veröffentlicht.
Tiere und Pflanzen haben im Laufe der Evolution zahlreiche Strategien
entwickelt, um neue Lebensräume zu besiedeln. Kirschen beispielsweise
werden im Sommer gern von Amseln gefressen. Den Kern scheiden die Vögel
unverdaut an einem anderen Ort aus, wo die Pflanze keimen kann. Wenig
bekannt ist bisher über die Ausbreitungsstrategien von Bodenlebewesen wie
Milben, Fadenwürmern oder anderen wirbellosen Tieren. Diese sind winzig
klein und dementsprechend langsam, leben aber in fast allen Böden. Und sie
sind von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren des Ökosystems,
weil sie organische Abfälle zersetzen und die Nährstoffkreisläufe im Boden aufrechterhalten.
Umso wichtiger sind die Forschungsergebnisse der Wissenschaftler um
Manfred Türke. Türke sammelte über Monate im Leipziger Auwald Spanische
Wegschnecken (Arion vulgaris), eine Nacktschneckenart, um ihre Exkremente
unter dem Mikroskop zu untersuchen. Dabei machte der Wissenschaftler eine
erstaunliche Entdeckung: Im Kot der Schnecken fand er 36 weit verbreitete
Arten von winzigen Hornmilben (Oribatida). Diese Spinnentiere bewohnen den
Boden und die Blattstreu der Wälder und sind nicht einmal einen Millimeter
lang. Erstaunlicherweise hatten 70 Prozent der gefressenen Milben die
Passage durch den Schneckendarm überlebt. Im Labor beobachtete Manfred
Türke, dass die Milben durch den Transport im Schneckendarm lebend an
einen neuen Ort gelangen können. Diese Ausbreitungsstrategie wird in der
Fachwelt Endozoochorie („Verdauungsausbreitung“) genannt und ist bisher
sehr selten bei Tieren beobachtet worden. Für die Milben, die selbst nicht
nur winzig sind, sondern äußerst schwerfällig und behäbig, sind die
Schnecken also ein Transport- und Ausbreitungsmittel. Denn selbst die
schnellste Hornmilbe kann am Tag maximal zwei Zentimeter Strecke
zurücklegen, während eine große Nacktschnecke bis zu 15 Meter Wegstrecke
pro Tag problemlos meistert. „Das bedeutet eine etwa tausendfache
Geschwindigkeit. Wenn eine Schnecke vorbeikriecht, ist es für eine Milbe
so als würde ein ICE vorbeidonnern“, sagt Manfred Türke. Ein Zug, auf den viele Milben aufspringen.
Der Biologe vermutet sogar, dass sich eine Milbe vorsätzlich fressen
lassen könnte: „Es wäre möglich, dass sie mitbekommt, wenn eine Schnecke
in der Nähe ist und dann höher in die Vegetation kriecht, um gefressen zu
werden. Denn in der Schnecke ist sie auch vor Feinden geschützt.“
Neben Hornmilben fanden die Wissenschaftler im Kot der gesammelten
Nacktschnecken auch Pflanzensamen, Moose und vor allem andere lebende
Bodentiere. Es ist also wahrscheinlich, dass sich ganze Mikroökosysteme
mithilfe von Schnecken ausbreiten. Der Ausbreitungsmechanismus könnte
erklären, warum winzig kleine Bodenbewohner, die selbst nur wenige
Zentimeter am Tag zurücklegen, neue Habitate in einem Ökosystem
erstaunlich schnell besiedeln. Ein einziger Quadratmeter Boden kann
hunderttausende wirbellose Tiere beherbergen – hunderte bis tausende von
verschiedenen Arten. Das bessere Verständnis dieser komplexen
Lebensgemeinschaften ist von entscheidender Bedeutung für den Erhalt
wichtiger Funktionen des Bodens wie Kohlenstoffspeicherung,
Trinkwasserreinigung oder Bodenfruchtbarkeit.
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung
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